Schnelles Denken, langsames Denken – Review

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

das folgende Review behandelt das Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“, im englischen Original „Thinking, Fast and Slow“ von Daniel Kahneman. Das 2011 veröffentlichte Buch wurde im Rahmen des IMD-Buchclubs 2019 gelesen. Dabei wird im Review auf besondere, relevante und spannende Inhalte eingegangen. Eine umfassende, die 622 Seiten paraphrasierende Zusammenfassung stellt es aber nicht dar. Im Gegenzug dafür wird auf das Leseerlebnis eingegangen und eine Form der Bewertung vorgenommen.

Über den Autor, Daniel Kahneman

Der israelisch-US-amerikanischen Psychologieprofessor Daniel Kahneman wurde 1934 geboren. Bekannt wurde er durch die Neue Erwartungstheorie, die er zusammen mit Amos Tversky entwickelte. Kahneman erhielt für seine Forschungen den Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften.

Inhalt

Fehler in unserem intuitivem Denken

Daniel Kahneman beschreibt, dass es systematische Fehler/Verzerrungen gibt. Ein Schwerpunkt des Buches sind Fehler in unserem intuitivem Denken. Oft liegen wir mit unserer Intuition richtig, manchmal aber auch nicht. Beobachter von Außen können das oft besser erkennen. Insgesamt geht es dem Autor um das Verständnis von Urteils- und Entscheidungsprozessen.

Kahneman und sein Freund Amos Tversky stellten 1974 mit einem Artikel die Grundannahme, dass Menschen allgemein rational handeln und durch Emotionen von dieser Rationalität abweichen in Frage. Sie behaupten, Menschen machen aufgrund der Konstruktion der Kognitionsmechanismen systematische Fehler (biases*).

Teil I – Zwei System und Teil II – Heuristiken und kognitive Verzerrungen

Im ersten Teil wird die Metapher von zwei Agenten („Systeme“) für mentale Prozesse eingeführt: System 1 für „schnelles Denken“, das unwillkürlich und intuitiv abläuft und das assoziative Gedächtnis beinhaltet. System 2 für „langsames Denken“, wird bewusst gesteuert, es „lenkt die Aufmerksamkeit auf die anstrengenden mentalen Aktivitäten, […] darunter komplexe Berechnungen.“ (Seite 33). Dabei handelt System 1 automatisch und System 2 ist „faul“.

„Gesetz vom niedrigsten Aufwand. Er wird so wenig wie möglich nachdenken.“ – S. 45

Im Weiteren wird auf Urteilsheuristiken, Vorhersagen und Regression eingegangen. Auch werden die essentiellen Unterschiede zwischen Kausalität und Korrelation verdeutlicht.

„Ihre Intuition liefert Vorhersagen, die zu extrem sind, und sie werden dazu neigen, ihnen allzu großen Glauben zu schenken.“ – S. 242

Teil III – Selbstüberschätzung

Im Dritten Teil erklärt Kahneman, dass Menschen zur Selbstüberschätzung neigen und wie damit umgegangen werden kann.

„Wir neigen dazu, unsere Fähigkeit überzubewerten, die Zukunft vorherzusagen“ – S. 315

So sollte z.B. die Optimismus-Verzerrung etwa Gründern bekannt sein. Man kann sie bewusst wahrnehmen und ihre positive Auswirkung auch für eine Unternehmung nutzen.

Ein Werkzeug, um mit Selbstüberschätzung (und Optimismus) umzugehen ist die Prä-mortem-Analyse. Dabei wird vor einer wichtigen Entscheidung rückblickend betrachtet, welche Gründe/Wege zu einem Fehlschlag, einer Katastrophe, geführt haben könnten.

Teil IV – Entscheidungen

Prägend für Teil IV ist die von Tversky und Kahneman entwickelte Neue Erwartungstheorie (Prospect Theory).

Dabei geht er nicht vom „Homo oeconomicus“ aus, einem wirtschaftlich rational denkendem Menschen, sondern von „Humans“, einem Modell eines Normalsterblichen, das System 1 berücksichtigt.

Die Neue Erwartungstheorie befasst sich mit Entscheidungen und Bereitschaft zu Risiken, erklärt anhand von Vermögen, Gewinnen und Verlusten. Kern der Theorie sind zwei Sätze:

  1. „In gemischten Lotterien, bei denen sowohl Gewinn als auch Verlust möglich ist, führt die Verlustaversion zu extrem risikoscheuen Entscheidungen.“

  2. „Bei schlechten Wahlmöglichkeiten, bei denen ein sicherer Verlust mit einem höheren Verlust, der lediglich wahrscheinlich ist, verglichen wird, führt rückläufige Empfindlichkeit zu Risikofreude.“

Die Wertefunktion der Prospect Theory; Quelle: RutT
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Die_Wertefunktion_der_Prospect_Theory.png Lizenz: CC BY-SA 4.0

Die Grafik zeigt, wie Menschen bei einem Verlustrisiko weniger bereit sind dies einzugehen (Risikoaversion). Durch Priming kann dieser Effekt beeinflusst werden.

Endowment

Zum Endowment Effect („Besitztumseffekt“) schreibt Kahneman, dass „[…] der Verkauf von Gütern, die man normalerweise benutzen würde,  […] Ekel und Schmerz [aktiviert]“ (S. 364). Dagegen sind „Einkäufe zu niedrigen Preisen eine lustvolle Erfahrung“ (S. 364). Auch spannend ist, dass Verlust als schlimmer wahrgenommen wird, als beispielsweise Gebühren. Abschließend heißt es „[…] System 1 ist nicht realitätsgebunden“.

Bewertung

Schreibstil und Lesbarkeit

Das Buch ist gut gegliedert und strukturiert in fünf Teile und viele kleinere Abschnitte. Hauptsächliches Mittel zur Erläuterung sind Beispiele, ergänzt um Selbstexperimente. Das lockert das Lesen auf. Die Inhalte bauen oft aufeinander auf. Ein roter Faden ist erkennbar, aber keine Zielstrebigkeit, wie bei einem Drama. Der interessante, sich schlängelnde Weg scheint das Ziel zu sein.

Kritik: Einige Zwischenüberschriften lassen sich nicht nachvollziehen, z.B. handelt der Abschnitt mit der Überschrift „Häufigkeit des Geschlechtsverkehr minus Streithäufigkeit“ (S. 280) überraschenderweise von Formeln zur Verringerung der Säuglingssterblichkeit.

4/5

 

Inhaltliche Komplexität

Das Buch behandelt komplexe Theorien und Modelle der Psychologie. Kahneman erläutert oft die Herkunft der Theorien oder belegt diese mit Beispielen. Dadurch werden diese für den Leser leichter greifbar. Dennoch handelt es sich um nicht triviale Theorien. Daher ist das Buch als Bettlektüre kurz vorm Schlafen gehen weniger geeignet.

Kritik: Das Buch ist an einigen Stellen nicht konsistent. Während an manchen Stellen – vielleicht zu ausführlich – die Beispiele vorgestellt werden, ist etwa das Beispiel zum Kinderfreibetrag (S. 455) zu verkürzt und wird dem Rahmen nicht gerecht.

4/5

 

„Manchmal lässt uns der wissenschaftliche Fortschritt verwirrter zurück, als wir es vorher waren.“ – S. 502

Leseempfehlung

Kahneman möchte mit dem Buch den Leser unterstützen, „Urteils- und Entscheidungsfehler von anderen und schließlich auch von uns selbst erkennen und verstehen […] um den Schaden zu begrenzen.“ (Seite 14). Diesem Anspruch wird er gerecht. Die Erkenntnisgewinne aus dem Buch helfen im Alltag und lassen uns unsere Entscheidungen überdenken. Daher gibt es eine klare Lese- und Kaufempfehlung, denn das Buch lädt dazu ein, sich Notizen zu machen, spannende Zitate zu markieren und Seiten mit Zusammenfassungen zu kennzeichnen – um daraus zu lernen.

4/5

 


Erläuterungen

Biases = „systematische Fehler/Verzerrungen“ (auch Wahrnehmungsverzerrungen, Neigungen, Tendenzen. Befangenheit)
Halo-Effekt = von einer bekannten Eigenschaft oder einem dominanten Merkmal einer Person auf eine unbekannte Eigenschaft schließen oder ein Merkmal weniger berücksichtigen; siehe Wiki, Spektrum
Heuristiken = verkürzte kognitive Operationen, mit deren Hilfe Schlussfolgerungen gezogen werden, ohne komplizierte und vergleichsweise langwierige Algorithmen einsetzen zu müssen; siehe Wiki, Spektrum
Kontiguität = Aneinandergrenzen; Stangl
Kohärenz = logisch, zusammenhängend, nachvollziehbar; siehe Wiki
Regression = statistisches Vorhersagemodell; siehe Spektrum, siehe auch „Regressionsanalyse“


Zitate: Kahneman, D. (2012). Schnelles Denken, langsames Denken. München: Penguin Verlag. / Text: Marius Müller / Vorschaubild: Stefan Keller/kellepics/pixabay.com

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